14
Ich bleibe noch lange am Fenster stehen, auch als sich schon längst der Wald zwischen mich und meine Heimat geschoben hat. Diesmal habe ich nicht die geringste Hoffnung auf Rückkehr. Damals, vor meinen ersten Spielen, hatte ich Prim versprochen, dass ich alles tun würde, um zu gewinnen, aber nun habe ich mir selbst geschworen, alles zu tun, damit Peeta am Leben bleibt. Diesmal wird es kein Zurück geben.
Ich hatte mir sogar schon letzte Worte an meine Angehörigen zurechtgelegt. Hatte mir überlegt, wie ich die Türen am besten verschließen und meine Lieben voller Trauer, aber in Sicherheit hätte zurücklassen können. Doch auch das hat das Kapitol mir gestohlen.
»Wir schreiben ihnen, Katniss«, sagt Peeta hinter mir. »Das ist bestimmt sowieso besser. Dann haben sie etwas von uns, woran sie sich festhalten können. Haymitch wird die Briefe für uns überbringen, falls ... sie überbracht werden müssen.«
Ich nicke. Dann gehe ich auf direktem Weg in mein Abteil und setze mich aufs Bett. Ich weiß, dass ich diese Briefe nie schreiben werde. Wie die Rede, die ich niederzuschreiben versucht habe, um Rue und Thresh in Distrikt 11 zu ehren. In meinem Kopf und auch als ich zu der Menge sprach, war alles klar, aber aus dem Stift wollten die Worte einfach nicht herausfließen. Abgesehen davon mussten diese Worte von Umarmungen und Küssen begleitet werden, ich müsste Prim dabei übers Haar fahren, Gale übers Gesicht streichen, Madge die Hand drücken. Unmöglich können sie zusammen mit einer Holzkiste überbracht werden, in der mein erkalteter steifer Körper liegt.
Ich bin zu traurig, um zu weinen. Ich will mich nur noch auf dem Bett zusammenkauern und schlafen, bis wir morgen früh das Kapitol erreichen. Aber ich habe eine Mission. Nein, mehr als eine Mission. Es ist mein Letzter Wille. Peeta retten. So unwahrscheinlich es angesichts der Wut des Kapitols auch scheinen mag, dass mir das gelingt, so wichtig ist es, dass ich alles gebe. Und das kann ich nur, wenn ich meinen Lieben zu Hause nicht länger nachtrauere. Lass sie los, sage ich mir. Sag Lebewohl und vergiss sie. Ich gebe mein Bestes, denke an jeden Einzelnen, entlasse sie wie Vögel aus den schützenden Käfigen in mir und verschließe die Türen, damit sie nicht zurückkönnen.
Als Effie anklopft und mich zum Abendessen ruft, fühle ich mich leer. Aber diese Leichtigkeit kommt mir nicht ganz ungelegen.
Die Stimmung beim Essen ist gedrückt. So gedrückt, dass lange Zeit überhaupt niemand etwas sagt und das Schweigen nur durch das Abräumen des einen Gangs und das Auftragen des nächsten unterbrochen wird. Eine kalte passierte Gemüsesuppe. Fischfrikadellen in Limonencreme. Diese Hühnchen in Orangen-Sahne-Soße, dazu Wildreis und Brunnenkresse. Schokoladenpudding, garniert mit Kirschen.
Ab und zu versuchen Peeta und Effie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, die aber bald erstirbt.
»Ich finde deine neue Frisur toll«, sagt Peeta.
»Danke. Sie sollte extra zu Katniss' Brosche passen. Wenn wir noch ein goldenes Armkettchen für dich finden und für Haymitch vielleicht einen goldenen Armreif oder so was, dann sehen wir aus wie ein Team, dachte ich«, erklärt Effie.
Offenbar weiß sie nicht, dass meine Spotttölpelbrosche inzwischen den Rebellen als Erkennungszeichen dient. Zumindest in Distrikt 8. Im Kapitol ist der Spotttölpel immer noch eine nette Erinnerung an eine besonders aufregende Ausgabe der Hungerspiele. Was auch sonst? Echte Rebellen tragen ihre geheimen Erkennungszeichen doch nicht auf etwas so Beständigem wie einem Schmuckstück. Sie prägen sie in ein Stück Brot, das notfalls binnen einer Sekunde aufgegessen werden kann.
»Ich halte das für eine großartige Idee«, sagt Peeta. »Was meinst du, Haymitch?«
»Von mir aus«, sagt Haymitch. Er verkneift sich das Trinken, aber ich weiß, dass er es nur zu gern täte. Als Effie bemerkt, wie viel Kraft es ihn kostet, hat sie auch ihr eigenes Glas Wein abräumen lassen, aber Haymitch geht trotzdem auf dem Zahnfleisch. Wäre er selbst der Tribut, dann wäre er Peeta nichts schuldig und könnte sich nach Herzenslust betrinken. So jedoch muss er alles daransetzen, dass Peeta in einer Arena überlebt, in der es von alten Freunden wimmelt, und wahrscheinlich wird er scheitern.
»Vielleicht können wir für dich ja auch eine Perücke bekommen?«, sage ich und bemühe mich, ungezwungen zu klingen. Haymitch schleudert mir nur einen Blick zu, der besagt, dass ich ihn in Ruhe lassen soll, und wir essen schweigend unseren Pudding auf.
»Wollen wir uns jetzt die Zusammenfassung der Ernten anschauen?«, fragt Effie in die Runde, während sie sich mit einer weißen Leinenserviette die Mundwinkel abtupft.
Peeta geht hinaus, um seine Notizen über die noch lebenden Sieger zu holen, und wir versammeln uns in dem Abteil mit dem Fernseher, um zu sehen, mit wem wir es in der Arena zu tun bekommen. Die Hymne erklingt und die alljährliche Zusammenfassung der Erntezeremonien in den zwölf Distrikten beginnt.
Die Geschichte der Spiele weist fünfundsiebzig Sieger aus. Neunundfünfzig von ihnen sind noch am Leben. Ich erkenne viele der Gesichter wieder, entweder weil ich sie bei früheren Spielen als Tribute oder Mentoren gesehen habe, oder von den Siegervideos, die wir uns vor Kurzem angeschaut haben. Manche Sieger sind so alt oder von Krankheit, Drogen und Alkohol derart gezeichnet, dass ich sie nicht einordnen kann. Wie zu erwarten, stellen die Karrieretribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 die stärkste Gruppe. Doch immerhin kann jeder Distrikt einen weiblichen und einen männlichen Sieger vorweisen.
Die Ernten sind rasch vorbei. Peeta macht in seinem Notizblock hinter die Namen der Ausgelosten eifrig Sternchen. Haymitch schaut mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie seine Freunde hervortreten und auf die Bühne steigen. Effie gibt leise, bekümmerte Kommentare von sich wie »Oh nein, nicht Cecelia« oder »Na, Chaff hat ja noch nie einen Kampf ausgelassen« und seufzt häufig auf.
Ich für meinen Teil versuche mir die anderen Tribute, so gut es geht, einzuprägen, aber wie letztes Jahr bleiben nur ein paar Gesichter hängen. Aus Distrikt 1 kommt das Geschwisterpaar, klassische Schönheiten, sie gewannen die Spiele in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, als ich noch klein war. Brutus, ein Freiwilliger aus Distrikt 2, der mindestens vierzig sein muss und es augenscheinlich gar nicht erwarten kann, wieder in die Arena zu kommen. Finnick, der hübsche Junge aus Distrikt 4 mit dem bronzefarbenen Haar, der vor zehn Jahren im Alter von 14 zum Sieger gekrönt wurde. Ebenfalls in Distrikt 4 wird eine hysterische junge Frau mit wallendem braunen Haar ausgelost, jedoch rasch durch eine Freiwillige ersetzt, eine etwa Achtzigjährige, die einen Gehstock braucht, um zur Bühne zu kommen. Dann ist da noch Johanna Mason, die einzige überlebende Siegerin aus Distrikt 7, die vor einigen Jahren gewann, indem sie so tat, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Die Frau aus Distrikt 8, die Effie Cecelia nennt, sieht aus wie dreißig und muss sich von drei Kindern lösen, die sich an sie klammern. Chaff, ein Mann aus Distrikt 11, von dem ich weiß, dass er zu Haymitchs engen Freunden gehört, ist auch dabei.
Ich werde aufgerufen, dann Haymitch. Und Peeta meldet sich freiwillig. Die Sprecherin bekommt eine weinerliche Stimme, weil die Chancen mal wieder schlecht stehen für uns, das tragische Liebespaar aus Distrikt 12. Dann reißt sie sich zusammen und verkündet allen, sie gehe jede Wette ein, dies würden »die besten Spiele aller Zeiten!«.
Wortlos verlässt Haymitch das Abteil. Effie macht noch ein paar zusammenhanglose Kommentare über diesen und jenen Tribut und sagt dann Gute Nacht. Ich sitze nur da und sehe Peeta zu, wie er die Seiten der Sieger herausreißt, die nicht ausgelost wurden.
»Warum legst du dich nicht ein bisschen hin?«, fragt er.
Weil ich mit den Albträumen nicht fertigwerde. Nicht ohne dich, denke ich. Und heute Nacht werde ich mit Sicherheit entsetzliche Albträume haben. Aber ich kann Peeta schlecht fragen, ob er bei mir schläft. Wir haben uns kaum berührt seit dem Abend, an dem Gale ausgepeitscht wurde. »Was hast du vor?«, frage ich.
»Ich will meine Notizen noch mal durchgehen. Mir ein genaues Bild machen, mit wem wir es zu tun bekommen. Morgen früh können wir das Ganze besprechen. Geh schlafen, Katniss«, sagt er.
Also gehe ich schlafen und wache natürlich nach wenigen Stunden aus einem Albtraum auf, in dem die alte Frau aus Distrikt 4 sich in ein großes Nagetier verwandelt und an meinem Gesicht knabbert. Ich muss geschrien haben, aber niemand kommt. Nicht Peeta, nicht mal einer von den Dienern des Kapitols. Um die Gänsehaut, die über meinen Körper kriecht, zu vertreiben, ziehe ich einen Bademantel über. Ich kann unmöglich in meinem Abteil bleiben, deshalb beschließe ich, jemanden aufzutreiben, der mir einen Tee oder Kakao oder sonst was macht. Vielleicht ist Haymitch ja noch wach. Er schläft bestimmt nicht.
Bei einem Diener bestelle ich eine warme Milch, das Beruhigendste, was mir einfällt. Ich höre Geräusche aus dem Fernsehabteil, gehe hinein, und da ist Peeta. Neben ihm auf dem Sofa steht die Kiste voller Videos mit Aufzeichnungen früherer Hungerspiele, die Effie zusammengestellt hat. Ich erkenne die Folge, als Brutus Sieger wurde.
Als Peeta mich sieht, steht er auf und holt das Band heraus. »Konntest du nicht schlafen?«
»Nicht sehr lange«, sage ich. Ich muss wieder an die alte Frau denken, die sich in ein Nagetier verwandelt hat, und ziehe den Bademantel fester um mich.
»Möchtest du darüber reden?«, fragt er. Manchmal hilft das, aber ich schüttele nur den Kopf und fühle mich schwach, weil ich schon jetzt von Leuten heimgesucht werde, mit denen ich noch gar nicht gekämpft habe.
Als Peeta die Arme ausstreckt, lasse ich mich sofort hineinfallen. Es ist das erste Mal seit der Verkündung des Jubel-Jubiläums, dass er mir irgendeine Art von Zuwendung gewährt. Bisher war er eher ein sehr strenger Trainer gewesen, der Haymitch und mich ständig angetrieben und gefordert hat, damit wir schneller rennen, mehr essen, Details über unseren Feind erfahren. Keine Spur mehr vom einstigen Geliebten. Er tat nicht einmal mehr so, als wäre er mein Freund. Schnell schlinge ich die Arme fest um seinen Hals, bevor er mir befehlen kann, Liegestütze zu machen oder so. Er zieht mich an sich und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar. Von dort, wo seine Lippen meinen Hals berühren, breitet sich langsam Wärme in mir aus. Es fühlt sich so gut an, so unfassbar gut, dass ich weiß, ich werde mich bestimmt nicht als Erste aus der Umarmung lösen.
Warum auch? Ich habe Gale Lebewohl gesagt. Ich werde ihn nie wiedersehen, das ist ganz sicher. Was ich auch tue, ihn kann es nicht mehr verletzen. Er wird es nicht sehen, oder er wird denken, ich schauspielere für die Kameras. Immerhin eine Last weniger auf meinen Schultern.
Der Diener kommt herein und wir lösen uns voneinander. Er stellt ein Tablett mit einem dampfenden Keramikkrug warmer Milch und zwei große Tassen auf den Tisch. »Ich hab noch eine Tasse mitgebracht«, sagt er.
»Danke«, antworte ich.
»Ich habe Honig in die Milch getan, zum Süßen. Und etwas Gewürz ...« Er sieht uns an, als wollte er noch etwas sagen, dann schüttelt er nur leise den Kopf und verlässt den Raum.
»Was ist denn mit dem los?«, frage ich.
»Wahrscheinlich tun wir ihm leid«, meint Peeta.
»Ganz bestimmt«, sage ich und gieße die Milch ein.
»Das meine ich ernst. Im Kapitol sind bestimmt nicht alle froh darüber, dass wir noch mal in die Arena müssen«, sagt Peeta. »Oder die anderen. Sie haben ihre Sieger lieb gewonnen.«
»Schätze, sie werden drüber wegkommen, wenn erst mal Blut fließt«, halte ich dagegen. Wenn ich für eins nun wirklich keine Zeit habe, dann, darüber nachzudenken, wie sich das Jubel-Jubiläum auf die Stimmung im Kapitol auswirkt. »Und, schaust du dir alle Bänder noch mal an?«
»Nein. Ich will nur herausfinden, welche Kampftechnik die Leute so draufhaben«, sagt Peeta.
»Welches kommt als Nächstes?«, frage ich.
»Nimm irgendeins«, sagt Peeta und hält mir die Kiste hin.
Auf den Bändern stehen das Jahr der Spiele und der Name des Siegers. Ich krame ein bisschen und halte plötzlich ein Band in der Hand, das wir noch nicht angeschaut haben. Nummer fünfzig. Das Jahr des zweiten Jubel-Jubiläums. Und der Name des Siegers lautet: Haymitch Abernathy.
»Das haben wir noch nicht gesehen«, sage ich.
Peeta schüttelt den Kopf. »Nein. Haymitch würde es auch nicht wollen, das wusste ich. Wir würden ja auch nicht gern unsere Spiele noch mal durchleben müssen. Und da wir im gleichen Team sind, dachte ich nicht, dass es wichtig wäre.«
»Ist der, der die fünfundzwanzigste Ausgabe gewonnen hat, dabei?«, frage ich.
»Ich glaube nicht. Wer immer das war, er muss inzwischen gestorben sein, denn Effie hat mir nur die Bänder der Sieger geschickt, mit denen wir es möglicherweise zu tun bekommen.« Peeta wiegt Haymitchs Band in der Hand. »Wieso? Meinst du, wir sollten es uns anschauen?«
»Es ist das einzige Jubel-Jubiläum, das wir haben. Vielleicht erfahren wir etwas Brauchbares darüber, was die da so machen«, sage ich. Aber mir ist nicht wohl dabei. Es kommt mir vor wie ein schwerwiegender Eingriff in Haymitchs Privatsphäre. Ich weiß zwar nicht, wieso, das Ganze war schließlich öffentlich, aber trotzdem. Gleichzeitig bin ich wahnsinnig neugierig. »Wir müssen Haymitch ja nicht erzählen, dass wir es uns angeschaut haben.«
»Okay«, stimmt Peeta zu. Er legt das Band ein, und ich kauere mich mit meiner gesüßten und gewürzten Milch, die wirklich köstlich ist, neben ihn und versinke in den fünfzigsten Hungerspielen. Nach der Hymne sieht man Präsident Snow, der den Umschlag für das zweite Jubel-Jubiläum zieht. Er sieht jünger aus, aber genauso abstoßend. Mit der gleichen Grabesstimme wie bei uns liest er von seinem Blatt ab und teilt Panem mit, dass zu Ehren des Jubel-Jubiläums doppelt so viele Tribute teilnehmen werden wie sonst. Schnitt auf die Ernten, wo Name auf Name aufgerufen wird.
Als wir zu Distrikt 12 kommen, bin ich schon überwältigt von der Anzahl der Kinder, die dem sicheren Tod entgegengehen. Eine Frau, allerdings nicht Effie, ruft die Namen von Distrikt 12 auf, und auch sie sagt: »Ladies first!« Sie ruft den Namen eines Mädchens auf - man sieht ihm an, das es aus dem Saum stammt -, und dann höre ich den Namen: »Maysilee Donner.«
»Oh!«, sage ich. »Das war eine Freundin meiner Mutter.« Die Kamera macht sie in der Menge ausfindig, während sie zwei Mädchen umarmt. Alle blond. Und eindeutig Kaufmannstöchter.
»Das ist doch deine Mutter, die sie da umarmt«, sagt Peeta leise. Er hat recht. Als Maysilee Donner sich tapfer löst und zur Bühne geht, erhasche ich einen Blick auf meine Mutter, die damals so alt war wie ich heute. Was ihre Schönheit angeht, hat man nicht übertrieben. Ein zweites Mädchen, das Maysilee sehr ähnlich sieht, hält ihre Hand und weint. Aber dieses Mädchen sieht noch jemandem ähnlich, den ich kenne.
»Madge«, sage ich.
»Ihre Mutter. Sie und Maysilee waren Zwillinge oder so«, sagt Peeta. »Das hat mein Dad mal erzählt.«
Ich denke an Madges Mutter. Die Frau von Bürgermeister Undersee. Die die Hälfte der Zeit von unerträglichen Schmerzen ans Bett gefesselt ist und die Welt ausblendet. Mir ist nie bewusst gewesen, dass es diese Verbindung zwischen ihr und meiner Mutter gibt. Ich denke daran zurück, wie Madge in dem Schneesturm aufgetaucht ist, um das Schmerzmittel für Gale zu bringen. Denke an meine Spotttölpelbrosche und daran, dass sie eine andere Bedeutung hat, seit ich weiß, dass Madges Tante, Maysilee Donner, sie einst getragen hat - ein Tribut, der in der Arena ermordet wurde.
Als Letzter wird Haymitch aufgerufen. Ihn zu sehen, schockiert mich noch mehr als der Anblick meiner Mutter eben.
Jung. Stark. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber er sieht echt toll aus. Dunkle Locken, die grauen Augen klar und schon damals gefährlich.
»Mensch, Peeta, er wird doch nicht Maysilee getötet haben, oder?«, bricht es aus mir heraus. Ich weiß nicht, warum, aber die Vorstellung ist mir unerträglich.
»Bei achtundvierzig Spielern? Nicht sehr wahrscheinlich, würde ich behaupten«, sagt Peeta.
Die Wagenparade - bei der die Kinder aus Distrikt 12 in grauenhaften Bergarbeiteroutfits stecken - und die Interviews rauschen vorbei. Man hat kaum Zeit, sich auf einen zu konzentrieren. Aber weil Haymitch der spätere Sieger ist, wird ein Wortwechsel zwischen ihm und Caesar Flickerman gezeigt, der in seinem nachtblauen Glitzeranzug exakt so aussieht wie immer. Nur die dunkelgrün gefärbten Haare, Lider und Lippen sind anders.
»Also, Haymitch, was hältst du davon, dass bei diesen Spielen hundert Prozent mehr Mitstreiter dabei sind als sonst?«, fragt Caesar.
Haymitch zuckt die Achseln. »Ich sehe da keinen großen Unterschied. Sie werden hundert Prozent so dumm sein wie sonst auch und deshalb schätze ich meine Chancen eigentlich gleich ein.«
Die Zuschauer lachen, Haymitch schenkt ihnen ein halbes Lächeln. Höhnisch. Arrogant. Gleichgültig.
»Dafür hat er sich nicht sonderlich verstellen müssen, oder?«, sage ich.
Schnitt auf den Morgen, an dem die Spiele beginnen. Wir erleben aus der Perspektive einer Spielerin mit, wie sie vom Starträum durch den Zylinder in die Arena hinauffährt. Ich schnappe nach Luft. Unglauben zeichnet sich auf den Gesichtern der Spieler ab. Sogar Haymitch hebt erfreut die Augenbrauen, zieht sie dann aber sofort wieder zu einer finsteren Miene zusammen.
Die Szenerie ist atemberaubend. Das goldene Füllhorn thront mitten auf einer grünen Wiese mit lauter prächtigen Blumen. Der Himmel ist azurblau mit bauschigen weißen Wolken. Singvögel flattern fröhlich über den Köpfen der Tribute, von denen einige schnuppernd die Nase recken. Der Duft muss fantastisch sein. Eine Luftaufnahme zeigt, dass die Wiese sich über viele Kilometer erstreckt. In der Ferne liegt in der einen Richtung ein Wald, in der anderen ein schneebedeckter Berg.
Die Spieler lassen sich von der Schönheit des Anblicks verzaubern, und als der Gong ertönt, sehen die meisten aus, als würden sie aus einem Traum erwachen. Nicht so Haymitch. Im Nu ist er beim Füllhorn, hat sich Waffen und einen Rucksack mit Vorräten gesichert. Ehe die anderen auch nur die Metallscheibe verlassen haben, ist er schon auf dem Weg in den Wald.
Achtzehn Tribute werden beim Gemetzel des ersten Tages getötet. Die anderen sterben wie die Fliegen, denn rasch zeigt sich, dass fast alles an diesem bezaubernden Ort - die köstlichen Früchte, die an den Sträuchern baumeln, das Wasser in den kristallklaren Bächen, sogar der Duft der Blumen, wenn man ihn von Nahem einatmet - tödlich giftig ist. Nur das Regenwasser und die Nahrungsmittel aus dem Füllhorn lassen sich gefahrlos konsumieren. Es gibt auch eine große, gut ausgerüstete Karrierotruppe aus zehn Tributen, die auf der Suche nach Opfern die Bergregion durchstreift.
Haymitch in seinem Wald kommt ganz schön in Bedrängnis, weil die flauschigen goldenen Eichhörnchen sich als rudelweise attackierende Fleischfresser herausstellen und die Stiche der Schmetterlinge Höllenqualen hervorrufen - wenn sie nicht sogar tödlich sind. Aber er kämpft sich immer weiter vorwärts, weg von dem fernen Berg hinter ihm.
Maysilee Donner erweist sich als ganz schön erfinderisch für ein Mädchen, das am Füllhorn lediglich einen kleinen Rucksack ergattert hat. Darin findet sie eine Schale, etwas getrocknetes Rindfleisch und ein Blasrohr mit zwei Dutzend Pfeilen. Sie nutzt die üppig vorhandenen Gifte und verwandelt das Blasrohr in eine tödliche Waffe, taucht die Pfeile in hochgiftige Substanzen und schießt sie ins Fleisch ihrer Gegner.
Nach vier Tagen bricht der malerische Berg aus und eliminiert ein weiteres Dutzend Spieler, darunter die Hälfte aller Karrieretribute. Da der Berg flüssiges Feuer spuckt und die Wiese keinerlei Versteck bietet, haben die verbliebenen dreizehn Tribute - einschließlich Haymitch und Maysilee - keine andere Wahl: Sie müssen in den Wald.
Haymitch scheint entschlossen, immer der gleichen Richtung zu folgen, fort von dem Berg, der zum Vulkan geworden ist, doch ein Labyrinth aus dichten Hecken zwingt ihn in einem Bogen zurück in die Mitte des Waldes, wo er auf drei der Karrieretribute trifft. Haymitch zückt sein Messer. Sie sind vielleicht größer und stärker, aber er ist sehr schnell und hat bereits zwei getötet, als er vom dritten überwältigt wird. Der Karriero will ihm gerade die Kehle aufschlitzen, da streckt ihn ein Pfeil zu Boden.
Maysilee Donner tritt zwischen den Bäumen hervor. »Zu zweit würden wir länger leben.«
»Schätze, das hast du soeben bewiesen«, sagt Haymitch und reibt sich den Hals. »Verbündete?« Maysilee nickt. Und mir nichts, dir nichts haben sie plötzlich eins dieser Bündnisse geschlossen, die man irgendwann notgedrungen brechen muss, wenn man jemals zurück nach Hause und seinen Distrikt wiedersehen will.
Wie Peeta und ich sind sie zu zweit besser dran. Sie schlafen mehr, denken sich gemeinsam eine Methode aus, wie sie mehr Regenwasser gewinnen können, kämpfen im Team und teilen das Essen aus den Rucksäcken der toten Tribute. Trotzdem, Haymitch ist immer noch entschlossen, weiterzumarschieren.
»Warum?«, fragt Maysilee immer wieder, doch er ignoriert sie, bis sie sich schließlich weigert, auch nur noch einen Schritt zu machen, solange sie keine Antwort bekommt.
»Weil es doch irgendwo ein Ende geben muss, oder?«, sagt Haymitch. »Die Arena kann nicht unendlich sein.«
»Und was, glaubst du, wirst du dort finden?«, fragt Maysilee.
»Ich weiß nicht. Aber vielleicht ist da etwas, das wir gebrauchen können«, antwortet er.
Als sie mithilfe eines Schneidbrenners, den sie aus dem Rucksack eines der toten Karrieros haben, endlich die schier unüberwindliche Hecke hinter sich gebracht haben, treten sie auf eine ausgetrocknete Ebene hinaus, die an einer Klippe endet. Weit unten sind zerklüftete Felsen zu erkennen.
»Das ist alles, Haymitch. Lass uns umkehren«, sagt Maysilee.
»Nein, ich bleibe hier«, erwidert er.
»Gut. Nur noch fünf von uns sind übrig. Dann können wir auch jetzt und hier Lebewohl sagen«, sagt sie. »Ich möchte nicht, dass am Ende bloß noch wir beide übrig sind.«
»Okay«, willigt er ein. Mehr nicht. Er hält ihr nicht die Hand hin oder sieht sie an. Und so geht sie fort.
Haymitch folgt dem Rand der Klippe, als grübelte er über etwas. Unter seinem Fuß löst sich ein kleiner Stein, der in den Abgrund fällt, augenscheinlich für immer verschwunden. Aber eine Minute später, Haymitch hat sich inzwischen hingesetzt, um auszuruhen, wird der Stein plötzlich zurückgeschleudert und landet neben ihm. Verdutzt starrt Haymitch den Stein an, dann wird seine Miene seltsam angespannt. Er wirft einen faustgroßen Stein über die Klippe und wartet. Als auch dieser Stein zurückgeflogen kommt und wieder genau in seiner Hand landet, lacht er los.
In diesem Augenblick hört man Maysilee schreien. Das Bündnis ist Vergangenheit, sie hat es gebrochen, deshalb könnte ihm niemand einen Vorwurf machen, wenn er sich nicht um sie kümmern würde. Trotzdem rennt Haymitch los. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie der letzte aus einer Schar bonbonrosafarbener Vögel mit seinem langen, dünnen Schnabel ihren Hals durchbohrt. Während sie stirbt, hält Haymitch ihre Hand, und ich muss die ganze Zeit an Rue denken und dass auch ich zu spät gekommen bin, um sie zu retten.
Später an diesem Tag wird noch ein Tribut im Kampf getötet und ein dritter von einem Rudel dieser flauschigen Eichhörnchen aufgefressen, sodass nur noch Haymitch und ein Mädchen aus Distrikt 1 um den Sieg wetteifern. Sie ist größer als Haymitch und genauso schnell, und als es zu dem unvermeidlichen Kampf kommt, ist er blutig und schrecklich, und beide haben bereits Verletzungen erlitten, die tödlich sein könnten. Da steht Haymitch plötzlich ohne Waffe da. Er taumelt durch den schönen Wald, drückt die Eingeweide zurück in den Bauch, während das Mädchen hinter ihm herstolpert, in der Hand die Axt, mit der sie ihm den Todesstoß versetzen will. Auf kürzestem Weg steuert Haymitch auf seine Klippe zu und ist eben an der Felskante angekommen, als das Mädchen die Axt schleudert. In diesem Augenblick lässt Haymitch sich fallen und die Axt fliegt über ihn hinweg in den Abgrund. Jetzt, da sie ebenfalls unbewaffnet ist, steht das Mädchen nur da und versucht das Blut zu stillen, das aus ihrer leeren Augenhöhle rinnt. Vielleicht denkt sie, sie könne Haymitch, der sich auf dem Boden windet, überleben. Aber im Gegensatz zu ihm kennt sie das Geheimnis des Abgrunds nicht, und als die Axt plötzlich wieder über die Kante geflogen kommt, gräbt sie sich in den Schädel des Mädchens. Die Kanone knallt, die Leiche wird fortgeschafft, die Fanfaren verkünden Haymitchs Sieg.
Peeta schaltet das Band ab, wir bleiben eine Zeit lang schweigend sitzen.
Endlich sagt Peeta: »Dieses Kraftfeld unterhalb der Klippe erinnert mich an das Kraftfeld rings um das Dach des Trainingscenters. Das schleudert einen auch zurück, wenn man versucht, hinunterzuspringen und sich umzubringen. Haymitch hat einen Weg gefunden, es als Waffe einzusetzen.«
»Und nicht nur gegen die anderen Tribute, auch gegen das Kapitol«, sage ich. »Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Es war nicht als Teil der Arena gedacht. Sie haben nie geplant, dass irgendjemand das Kraftfeld als Waffe einsetzen sollte. Als Haymitch es dennoch schaffte, standen sie ganz schön dumm da. Es hat bestimmt eine Weile gedauert, bis sie sich eine passende Story dazu ausgedacht haben. Wahrscheinlich habe ich es deshalb auch nicht im Fernsehen gesehen. Das ist ja fast so schlimm wie wir mit den Beeren!«
Ich pruste los, zum ersten Mal seit Monaten kann ich richtig lachen. Peeta schüttelt nur den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren - vielleicht ist es auch ein bisschen so.
»Fast, aber nicht ganz«, sagt Haymitch hinter uns. Ich fahre herum und befürchte, er könne verärgert sein, weil wir sein Band angesehen haben, aber er grinst nur und nimmt einen tiefen Schluck aus einer Weinflasche. So viel zum Thema nüchtern bleiben. Wahrscheinlich müsste ich jetzt wütend sein, weil er wieder trinkt, doch mich beschäftigt etwas anderes.
In den zurückliegenden Wochen habe ich mich nur darum gekümmert zu erfahren, wer meine zukünftigen Konkurrenten sind, und keinen Gedanken daran verschwendet, wer meine Teamkameraden sind. Jetzt aber macht sich eine neue Art von Zuversicht in mir breit, weil ich glaube, dass ich endlich über Haymitch Bescheid weiß. Und ich weiß allmählich auch, wer ich bin. Und zwei Leute, die dem Kapitol so viel Ärger eingebrockt haben, werden bestimmt einen Weg finden, Peeta lebend wieder nach Hause zu bringen.